Einst schien durchs Gold kein Licht

von Zarah Weiss

Das erste Rezept, das Selma mir beigebracht hatte, war ein türkischer Nachtisch. Zumindest hatte sie das behauptet. Es war ein früher Sonntagnachmittag gewesen, wir hatten die ganze Wohnung geputzt und dann erschöpft auf den Küchenstühlen gehangen. Und sie hatte griechischen Joghurt und Ahornsirup genommen und beides über weiches, süßes Brot gegossen. Hatte es Kuchen genannt und es hatte fantastisch geschmeckt.

Wie viele Male hatten wir seitdem diesen Kuchen gegessen. Mit gewohnten Bewegungen nahm ich die Zutaten aus den Küchenkästen und bereitete einen großen Teller zu.
Zwei Bedingungen hatte sie mir genannt bevor ich einziehen durfte: kein Schweinefleisch und keine fremden Männer in der Wohnung. Ich hatte es streng gefunden, aber nichts gesagt. Ihr Mann hätte etwas dagegen, hatte sie gemeint, ihr Mann, der noch in der Türkei lebte und darauf wartete, herzukommen. Jetzt war sie zu ihm gefahren und ich hatte ihn nie kennengelernt. Ich fragte mich, ob sie wirklich in einem Monat zurückkommen würde. Mit ihm. Der die Sprache nicht verstand, der niemanden kannte, der einen sicheren und prestigeträchtigen Job im Krankenhaus zurücklassen würde. Dort, wo sie sich kennengelernt hatten.

Ich begann zu löffeln und starrte auf die Flasche mit dem Ahornsirup. An diesem ersten Kuchennachmittag, während draußen ein Gewitter aufzog, hatte Selma mir die Geschichte ihrer großen Liebe erzählt.

Es war nicht ihre erste Beziehung gewesen. Zuvor musste sie erst die, wie sie sagte, schlimme Zeit erleben. Als Kind hatte sie Atemschwierigkeiten gehabt. Eine Fehlstellung der Nase; sie hatte durch den Mund atmen müssen und nächtelang nicht einschlafen können. Das werde vorübergehen, hatte ihr Vater gesagt und dann schließlich auch die Ärzte, zu denen ihre Mutter sie immer wieder schleppte. Mit der Zeit ging es. Fast nur mehr ein kosmetischer Fehler. Selma lernte, mit einer bestimmten Technik zu atmen, sie lernte, den Mund nur einen winzigen Schlitz zu öffnen, ein winziges bisschen Luft ganz tief einzuatmen, sodass es niemand bemerkte. Sie lernte, beim Einatmen das eine Nasenloch zu verschließen, damit durch das andere mehr Luft kam. Doch Kinder beobachten genau. Und was in der frühen Kindheit noch eine witzige Macke war, machte sie in ihrer Jugend zur Außenseiterin. Zu der mit der komischen Nase, die so komisch atmet. Selma ertrug all das. Für sie war es Allahs Wille, die Last zu tragen. Jede Person trug eine Last. Immerhin war sie schön, auch mit dieser Nase schön. Es war keine leise, pure, sondern eine laute Schönheit, die beinahe einschüchterte, eine Offensichtlichkeit, eine Selbstverständlichkeit. Vielleicht war sie am Ende der Grund, warum Timur begonnen hatte, um Selma zu werben. Sie war gerade 18 geworden und noch nie in einer Beziehung gewesen, und dann kam Timur. Kam von seinen Freunden zu ihr herübergelaufen und sprach sie an, legte von da an regelmäßig Blumen vor ihre Tür, begleitete sie auf dem Nachhauseweg, bis sie sich schließlich auf ihn einließ. Und mit ihm Eintritt fand in den Kreis derer, die den Ton angaben, der Reichen, Großen, Schönen.

“Und dann. Eines Tages. Sein regungsloses, arrogantes Gesicht, als er ihr sagte, er könne ihre schreckliche Atmerei nicht mehr ertragen.”

Ich wusste noch, sie hatte ihr Gesicht hinter dem Kaffeeglas versteckt, als sie mir erzählte, wie unsicher sie gewesen sei und dass sie nicht sicher sagen könne, ob Timur damals in sie verliebt oder sie bloß ein Experiment für ihn gewesen war. Unabhängig davon wurde aus dem Experiment Ernst, eine Beziehung, die die Schulzeit überstand und bis in die Studienanfänge hineinreichte.

Selma richtete ihr Leben auf Timur aus, wählte ihren Studienort passend zu seiner Wahl, mietete eine Wohnung für sie beide mit dem Geld ihres Bruders, opferte all ihre Zeit für ihn.

Und dann. Eines Tages. Sein regungsloses, arrogantes Gesicht, als er ihr sagte, er könne ihre schreckliche Atmerei nicht mehr ertragen. Sie widere ihn an, mit ihrer krummen, großen Nase, und nachts neben ihr könne er nicht schlafen, weil sie ihm ins Ohr atmete – laute, heiße Atemzüge, mit offenem Mund. Sie sei ein Spaß für ihn gewesen, jetzt sei ihm das alles zu viel geworden.

Selma war plötzlich allein in der großen Stadt. Kannte niemanden, hatte sich ja immer nur mit Timur beschäftigt. Die Wohnung war für sie allein zu groß und doch zog sie sich in diese Riesenhöhle zurück. Sie meldete sich nicht mehr bei ihrer Familie, hörte auf, zur Uni zu gehen.

Ihr Bruder hatte letztlich die Idee gehabt. Er hatte alles arrangiert, den Platz im Krankenhaus, die Weitervermietung der Wohnung, mit ihren Eltern über die Kosten diskutiert. Und so kam es, dass Selma eine Nasen-OP hinter sich brachte, Wochen im Krankenhaus blieb und tagein tagaus im Bett lag, mit einem Verband um den Kopf, der nichts frei ließ bis auf ihre Augen.

In dem Moment, in dem ich herzhaft und zugleich erschüttert über dieses Bild einer Mumien-Selma gelacht hatte, hatte es draußen laut gedonnert. Selma war zusammengezuckt, konnte den Krach nicht ertragen. »Ich hasse Gewitter«, hatte sie gemeint. Ein Blitz hatte unsere Gesichter erleuchtet und Selma hatte lächelnd geseufzt und gesagt: »Und dann kam Akvarol.«

Die Operation hatte sein Chef durchgeführt, aber alle nachfolgenden Gespräche hatte sie mit Akvarol. Sie blieb länger als nötig im Krankenhaus, ihre Eltern wollten sicher gehen, dass die Wunde komplett verheilt war. Vor ihrer Zimmertür rollende Betten, rennende Menschen, Desinfektionsgeruch. Aus dieser hektischen Welt kam er jeden Tag zur Visite in ihr Zimmer, atemlos. Sie konnte dann förmlich dabei zusehen, wie sein Atem zurückkam, sich beruhigte. Nie deutete er auch nur an, dass er eigentlich gerade woanders sein müsste. Er berichtete ihr von all den Operationen, die schon in diesem Krankenhaus durchgeführt worden waren, nahm ihr die Angst, lenkte sie von den Schmerzen ab. Er blieb lange bei ihr, stand neben ihrem Bett und machte ihr Hoffnung, dass die Wunde schnell heilen würde. Er brachte sie zum Lachen mit tollpatschigen Geschichten aus seinem Medizinstudium. Er schimpfte über diesen heißesten Sommer, den die Türkei seit langem erlebt hatte, und grinste, sie könne froh sein, bei der Hitze im gekühlten Zimmer zu liegen. Er fragte sie nach den Problemen mit der Nase in ihrer Kindheit und wie es jetzt zu der Operation gekommen war, und erzählte von seiner Ex-Frau und seinen drei Schwestern. Er war 15 Jahre älter als sie. Kein einziges Mal setzte er sich auf ihr Bett, blieb immer daneben stehen. Einmal nahm er ihre Hand und betrachtete sie, als könnte sie zwischen seinen Fingern zerbrechen. »Ich habe mich in dich verliebt«, sagte er. Und unter ihrem Verband konnte Selma nur lächeln, sie war schon längst rettungslos verloren.

Dann der Tag, an dem der Verband von seinem Kollegen abgenommen wurde. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, sie fühlte sich wahnsinnig nackt. Akvarol sah sie an, sagte lange gar nichts. Merkte irgendwann, wie unwohl sie sich fühlte, griff nach ihrer Hand.

Selma hatte gelacht an dieser Stelle der Erzählung, hatte den Kaffee mit einem Schluck geleert und sich den Rest des Kuchens auf den Teller geschaufelt: »Später irgendwann hat er mir gesagt, dass er in dem Moment überwältigt gewesen sei. Er hatte gar keine Worte. Er sagte, wenn er gewusst hätte, wie schön ich sei, hätte er es gar nicht gewagt, mich auch nur anzusprechen.«
Wir hatten uns gegenüber gesessen, draußen hatte sich das Gewitter langsam beruhigt. »Im Grunde hat er sich ja nur in meine Augen verliebt«, seufzte sie. »Glück im Unglück, stell dir mal vor: Ich musste mir erst die Nase korrigieren lassen. Ist das nicht absurd?« Es war so absurd, dass ich keine Worte dafür fand. Mein Antonio Banderas, sagte sie immer. Was von all dem war wirklich Liebe?

Am nächsten Tag in der Unibibliothek zog ich ein Buch über Sirupe aus dem Regal. Ich las verschiedenste Legenden über die Entstehung von Ahornsirup, aber ein Ursprungsmythos begegnete mir immer wieder: Früher einmal war der Sirup dickflüssig und undurchsichtig aus der Rinde gequollen. Die Menschen hatten sich den Sirup süß in den Mund rinnen lassen, waren dadurch faul geworden. Woraufhin die Götter den Sirup verdünnt und nur noch zu einer Jahreszeit fließen lassen hatten. Und jetzt. Wie anstrengend alles immer war. Unser Sehnen, unser Streben, stetig. Wie weit wäre ich gegangen? Dafür? Dickes Gold. Mit einem Mal wusste ich, dass Selma nicht zurückkommen würde. Als ich aus der Bibliothek kam, dämmerte es. Ich schaltete den Dynamo vom Fahrrad ein, in der Stadt waren die ersten Lichter angegangen.

Dieser Text wurde 2019 in “Almost 30 – The Value Issue” veröffentlicht.
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