„Manche Stoffe tun einfach weh. Aber man muss nicht unnötig verletzen.” – Vanessa Vu und Pola Schneemelcher über die Grenzen des Schreibens

Aus welcher Perspektive darf man eine Geschichte erzählen? An welchen Orten und Geschichten darf man sich bedienen? Und wie kann eine Gesellschaftskritik aussehen, ohne dabei schmerzhafte Erfahrungen zu reproduzieren? Diese und andere Fragen sind während der Arbeit an „Dümpeln” aufgekommen. Im Gespräch mit der Autorin und Sensitivity Readerin Vanessa Vu geht unsere Autorin Pola Schneemelcher den Absichten des Schreibens auf den Grund.

Pola: Schön, dass wir uns sprechen, nachdem wir bisher nur Kontakt in Form von Kommentaren in meinem Manuskript hatten. Ich verfolge deine Arbeit schon lange und bin großer Fan. Ich glaube, ich hab als erstes deinen Artikel “Keine Antwort schuldig” in der Zeit gelesen und dann angefangen, regelmäßig deinen Podcast “Rice and Shine” zu hören. Deswegen war es für mich total schön, dass ausgerechnet du das Sensitivity Reading zu Dümpeln gemacht hast. 

Ich habe so viel daraus mitgenommen, muss aber auch sagen, dass ich ein wenig Respekt davor habe, mit dir übers Schreiben zu sprechen, weil du es richtig gelernt hast. Du bist Journalistin und Autorin, das ist dein Beruf. Ich bin Ökonomin und mache das alles zum ersten Mal. 

Vanessa: Das hätte ich gar nicht gedacht, als ich dein Buch gelesen habe! Ich wollte den Text erstmal so lesen, wie er ist – ohne mir vorzustellen, wie die Autorin dahinter aussehen könnte, woher sie kommen könnte, oder was sie sonst so in ihrem Leben gemacht hat.

„Schreiben ist ein bisschen so, als ob man die Türen zu seinem Kopf öffnet und darin sehr intensiv und lange aufräumt und dekoriert, damit sich andere darin umschauen können.”
– Vanessa Vu

Pola: Ich schreibe schon seit eigentlich immer, aber immer intuitiv und für mich, nie professionell. Mich würde daher sehr interessieren, wie du einen Schreibprozess angehst. Du hast ja auch gerade ein Buch mit deinem Partner Ahmad Katlesh geschrieben: Komm dahin, wo es still ist. Das ist auch das erste Buch, das du veröffentlichst, oder?

Vanessa: Ja, Bücherschreiben ist auch für mich noch ganz neu und hab mich währenddessen oft gefragt, was ich da eigentlich genau mache oder wie das funktioniert. Vielleicht ist Schreiben auch genau das: Nicht zu wissen, wie etwas funktioniert, wie man etwas in richtige Worte und Erzählungen packt, sondern ein Suchen danach. Das war oft ein quälender Prozess. Aber sobald erst mal Sätze und Wörter stehen, ist das ein sehr befriedigendes Gefühl, daran weiterzuarbeiten. Es gibt mir eine große Genugtuung, Gefühle, Verwirrungen, unzusammenhängende Beobachtungen, kleine und große Erkenntnisse – all das – zusammenzubinden und dann zu sortieren und zu feilen. Das hat etwas Therapeutisches, auch wenn es vielleicht nicht so sein sollte.

Pola: Wenn du sagst, es hat was Therapeutisches, willst du sagen, dass du versuchst, dir mit so einem Schreibprozess selbst näher zu kommen? Oder versuchst du dadurch, dass du es irgendwie aufs Papier bringst, erstmal Abstand von den Gedanken zu finden und sie aus dir zu lösen? 

Vanessa: Beides. Zuerst versuche ich, erst einmal alles rauszubekommen und dann daran etwas zu verstehen. Wobei auch das Verstehen immer nur eine Momentaufnahme ist. Ich merke das bei älteren Texten, durch die ich während des Schreibens viel über mich gelernt habe. Jahre später lese ich sie noch einmal und denke mir, dass das eigentlich total trivial war oder dass ich heute dieselbe Erfahrung, dieselbe Erkenntnis ganz anders aufschreiben würde. Aber für den Moment bin ich mir damit näher gekommen. Ich denke ja schon jetzt, obwohl wir unser Buch erst vor ein paar Wochen abgegeben haben, dass ich schon wieder ganz woanders bin. 

Pola: Das ging mir genauso. Ich war mit Dümpeln fertig und bin durch den Schreibprozess auf ganz neue Fragen und Themen gekommen, die ich vollkommen außen vor gelassen habe. Das ist dann wohl Stoff für das nächste Buch.

Ich finde es spannend, dass du sagst, der Schreibprozess bringt für dich immer eine Erkenntnis. Ich frage mich gerade, inwieweit ich diesen Schritt gemacht habe oder noch nicht, also, ob die Erkenntnis vorher schon da war oder durch das Schreiben gekommen ist. Ich habe bisher immer geschrieben, um Abstand von mir und meinen Gedanken zu bekommen, deshalb kann ich zum Beispiel auch kein Tagebuch über mich oder meinen Alltag schreiben. Und Dümpeln ist auch ganz bewusst nicht autobiografisch, sondern fiktional. Aber wahrscheinlich ist es am Ende doch beides und man begegnet sich immer wieder selbst. Dein Buch ist autobiografisch, richtig?

Vanessa: Es ist sogar doppelt autobiografisch, weil sowohl ich als auch mein Partner uns jeweils selbst und einander reflektieren. Wo du gerade vom Tagebuch sprichst: Die ersten Texte, die ich jemals geschrieben habe, waren Tagebucheinträge. Meine Tagebücher haben sich über die Jahre stark verändert und irgendwann gab es das Internet und Blogs und Chats und Leute, die mir geantwortet haben. Dann wurde ich Journalistin und habe meine Texte mit einem noch größeren Publikum geteilt. Was Ahmad und ich nun aber in unserem Buch machen, unsere Briefe aneinander, das ist das Intimste, was ich jemals öffentlich geteilt habe, was mich zur Frage führt, wofür wir eigentlich schreiben. Ist das nicht ein zutiefst egoistisches Unterfangen? Was muten wir damit anderen Menschen zu? Warum schreiben wir für uns und gleichzeitig gar nicht für uns? Was ist das für eine seltsame Herangehensweise? Aber da das auch Millionen vor mir gemacht haben und Millionen nach mir machen werden, denke ich mal, dass es kein zu außergewöhnliches, aber eben auch egoistisches Unterfangen ist. 

Pola: Genau, durch Schreiben den eigenen Gedanken in eine andere Welt zu entfliehen, ist ja auch ein sehr egoistisches Bedürfnis. Ich hatte nie den Anspruch, dass das andere Leute lesen. Aber vielleicht gehört zum Schreiben auch dazu, dass man Gedanken teilt, die andere auch haben, aber nicht greifen oder für sich formulieren können. 

Vanessa: Schreiben ist ein bisschen so, als ob man die Türen zu seinem Kopf öffnet und darin sehr intensiv und lange aufräumt und dekoriert, damit sich andere darin umschauen können. Und weil sich jemand diese Mühe gemacht hat, schätze ich es eigentlich erstmal von jeder Person zu lesen, auch wenn ich nicht jede Perspektive nachvollziehen oder gutheißen kann. 

So ging es mir auch bei Dümpeln. Ich habe es nicht nur als Sensitivity Readerin gelesen, ich hatte das Projekt auf Instagram gesehen und gleich beim Crowdfunding unterstützt. Ich mochte die Idee eines Indie-Verlags und eine:r Fritteusen-Verkäufer:in auf Sinnsuche im Dschungel? Her damit! Tatsächlich fand ich die Geschichte rührend und angenehm roh, zuweilen poetisch. Vor allem nach hinten raus nimmt sie an Fahrt auf und ich war vollkommen bei der Hauptfigur im Dschungel und fühlte ihr Kriechen aus der Depression. Das war ganz, ganz großes transformatives Kino. Gleichzeitig wurde ich das Gefühl nicht los, dass dieses Buch insgesamt nicht für Menschen wie mich geschrieben worden ist, sondern eher für Leute, die wie die Hauptfigur sind, nämlich weiß und privilegiert, und die Gefallen finden an Vietnam als reine Kulisse zur Selbstfindung. Entsprechend hätte ich Schwierigkeiten, das Buch anderen Vietnames:innen zu empfehlen und war mir nicht sicher, ob man dies durch die Anpassung einzelner Formulierungen oder Passagen noch hätte ändern können.

Nicht falsch verstehen: Als Journalistin schreibe ich zwar politisch, lese aber privat nicht nur politische Texte und setze erst recht nicht konsequent politische Maßstäbe an alles, was ich lese, höre oder sehe. Ich finde es sogar wichtig, dass Kunst, und dazu gehört die Literatur, mehr ist als eine sinnvoll platzierte, politische Meinungsäußerung. Es sind einfach andere Welten, die literarische Arbeiten uns eröffnen und ich kann eigentlich immer auf die eine oder andere Art eine Erkenntnis oder eine Unterhaltung oder Zerstreuung daraus mitnehmen. Was du geschrieben hast, hätte keine andere Person so schreiben können. 

In Dümpeln beschreibst du zum Beispiel die Straße, Đội Cấn, in der ich auch und fast zur selben Zeit gelebt habe wie die Hauptfigur. Und auch wenn dein Roman kein autobiografisches Buch ist, hast du es geschafft, dass ich diesen vertrauten Ort aus einer komplett anderen Perspektive betrachte. Ich kann mich darauf einlassen und deinen Worten folgen. Ich habe mich aber gefragt, warum du von allen Stoffen, die dir zur Verfügung stehen, ausgerechnet diesen Stoff gesucht hast, diesen Ort, diese Perspektive.

Wer bin ich eigentlich? Wie wurde das innere Kind in mir verletzt? Wie bin ich besonders achtsam? Wie setze ich Grenzen zu anderen Menschen? Wir dümpeln eigentlich nur um diese Fragen herum, kommen dabei aber nicht so richtig vom Fleck… auch wenn wir es uns leisten können, irgendwohin zu reisen, um uns zu finden.
– Pola Schneemelcher

Pola: Ich glaube tatsächlich, ich hätte keine andere erste Geschichte schreiben können. Die Perspektive, aus der ich schreibe, ist eine, die ich annehmen kann, weil ich sie kenne, weil ich aufgrund meiner Tätigkeit in Vietnam (ich habe dort nicht gedümpelt, sondern gearbeitet) einen Einblick in die Gesellschaft der Expats und Backpacker bekommen habe. Und natürlich spielen meine Sozialisierung und mein Hintergrund als Deutsche ohne Migrationshintergrund, meine Privilegien, eine große Rolle. Einige Erkenntnisse und Erfahrungen, die die Hauptfigur im Verlauf der Geschichte durchläuft, habe ich deshalb selbst gemacht. Zum Beispiel zieht es die handelnde Person immer wieder in den Hanoi Coffee Club and Grill, obwohl sie das Publikum dort eigentlich von Anfang an sehr kritisch betrachtet. Aber es ist bequem, es ist einfach, weil man sich nicht auf eine neue Kultur einlassen muss und vieles ist wie zuhause, es ist oft luxuriöser und exklusiver als man sich das in Deutschland leisten könnte. In Vietnam galten an diesen Orten auch andere Regeln, zum Beispiel musste die Ausgangssperre nachts nicht eingehalten werden. Deshalb war ich auch oft an diesen Orten, fand sie unangenehm und anziehend zugleich, da ging es mir ähnlich wie der Hauptfigur.

Die Frage der Perspektive hat sich ja im Rahmen der Sensitivity noch mal besonders gestellt. Wäre es richtiger gewesen, eine andere Perspektive einzunehmen? Oder eine weitere Perspektive, damit nicht zu einseitig berichtet wird? Oder nicht in der Ich-Perspektive zu schreiben, die ja genau diesen Spiegel vermitteln soll, auch wenn ich als Autorin sie ablehne? Ich bin ja nicht die Hauptperson, ich habe sie und alle anderen Personen in meinem Buch auf eine Art und Weise konstruiert, wie ich hoffe, selber nicht zu sein, aber mit der ich eine Aussage machen will. Die handelnde Person, die das alles zwar mit sarkastischem Abstand betrachtet und ablehnt, aber am Ende ja trotzdem Teil dessen ist und es auch bleibt, macht vielleicht noch die größte innere Entwicklung durch, weil sie am Ende erkennt, dass ihr Handeln falsch war, aber daraus folgt nichts. Sie ist zurück in Deutschland und holt für sich das meiste raus: ihre Geschichte. Oder Emil, der vielleicht weniger für die Sinnsuchenden steht als für Menschen, die sich mit Geschichten über Reisen und Abenteuer – besonders instagrammable – profilieren … und allen immer erklären möchten, dass sie dadurch besonders frei und unabhängig sind, aber nicht erkennen, dass die Kehrseite dieser Freiheit bedeutet, dass man nicht mehr viel hat, was einem etwas bedeutet oder für das man Verantwortung übernehmen sollte. Am undurchsichtigsten ist vielleicht die Journalistin und das hast du mal während des Sensitivity Readings sehr gut beschrieben: Sie steht am anderen Ende desselben Spektrums wie die Hauptperson und Emil. Sie stellt Fragen, aber erwartet, dass ihr die Vietnames*innen auch zu antworten haben. Als sich ihre Recherche nicht materialisiert, verliert sie das Interesse. Es sind also in weiten Teilen eurozentrische Perspektiven, die durch die handelnden Personen reproduziert werden. 

Für mich ist das eine grundsätzliche Frage: Kann und darf ich in eine andere Perspektive schlüpfen als in die, in der ich sozialisiert wurde? Kann ein Mann als eine Frau schreiben? Natürlich gibt es Männer, die das gemacht haben – und andersrum. Im Fall von Dümpeln weiß man ja auch nicht, ob die Hauptperson ein Mann oder eine Frau ist. Ich würde es aber für mich ablehnen, eine kulturell andere Perspektive einzunehmen. Es wäre einfach ein anderes Buch. Ich müsste sehr viel mehr recherchieren, Interviews führen, und dann würde ich ja als Weiße auch wieder nur für andere Leute sprechen und das erscheint mir nicht richtig.

Ich erhoffe mir, dass ich durch meine Einblicke, durch die Perspektive der Hauptperson, etwas vermitteln kann und andere sich darin erkennen und daraufhin ihr eigenes Handeln hinterfragen.  

In Dümpeln ist man quasi dazu gezwungen, die Gefühle einer Person anzunehmen, die Vietnam konsumiert für ihre eigene Selbsterkenntnis.
– Vanessa Vu

Vanessa: War es dein Hauptanliegen, etwas zu vermitteln? 

Pola: Es ging schon darum, sozialkritisch dieses Gefühl aus dem Titel herauszuarbeiten. Wie gesagt, ich komme aus einer bestimmten Sozialisierung heraus, aus diesem Bildungsbürgertum, aus dieser Gesellschaft, in der wir uns sehr viel um uns selbst drehen und in der wir sehr wenige existenzielle oder materielle Sorgen haben und von außen auch recht wenig an uns herangetragen wird, was wir sein sollen – eigentlich haben wir ja alle Freiheiten. Und wir antworten darauf mit diesen ganzen Fragen nach Selbstfindung, Wer bin ich eigentlich? Wie wurde das innere Kind in mir verletzt? Wie bin ich besonders achtsam? Wie setze ich Grenzen zu anderen Menschen? Diese Fragen sind an sich ja nicht falsch, aber es kann nicht dabei bleiben, irgendwann müssen wir uns auch darüber hinaus fragen, welche Verantwortung wir in einer Gesellschaft haben. Wir dümpeln eigentlich nur um diese Fragen herum, kommen dabei aber nicht so richtig vom Fleck… auch wenn wir es uns leisten können, physisch irgendwohin zu reisen, um uns zu finden. Die meisten stellen sich dabei aber gar nicht die Frage, wo sie da gerade sind. Sie nutzen den Ort als Kulisse. Oder es handelt sich um Expats, die in der internationalen Zusammenarbeit arbeiten, und das oft als sinnstiftend formulieren, aber dann zum Beispiel akzeptieren, dass die sogenannten Ortskräfte – schlimmes Wort übrigens – viel schlechter entlohnt werden, dass sie selbst oft nichtmal die Sprache des Landes sprechen, das sie da beraten, und oft einen abfälligen Blick auf die Gegebenheiten vor Ort entwickeln im Vergleich mit Deutschland. Aber es geht vielen von ihnen eher um ihren eigenen Sinn, den sie durch die Arbeit empfinden, als um den gesellschaftlichen Blick. Das war das Gefühl, das ich damit vermitteln wollte. 

Vielleicht ist das aber genau der Punkt, an dem das Buch aufhört und wo der nächste Stoff ansetzen muss. Was bedeutet eigentlich unsere Gesellschaft, wenn wir uns nur um uns selbst drehen, wo bringen wir uns dann in der Gesellschaft ein? Darauf gibt mein Buch keine Antwort, denn die Personen bleiben bis zum Ende eigentlich bei sich. Die Hauptperson versteht zwar, dass sie doch mal mehr über den Tellerrand der persönlichen Empfindung hinaus blicken könnte, aber erst mal beantwortet sie für sich die Frage nach dem Sinn ihres Daseins. 

Vanessa: Die innere Transformation der Hauptfigur war für mich mitunter das Spannendste zu lesen. Ich habe aber noch keinen abschließenden Umgang mit unreflektierten Menschen gefunden, die in Vietnam dümpeln. Beim Sensitivity Reading musste ich mich immer fragen, ob ich die als unreflektiert konstruierten Hauptfiguren einfach nicht mag – oder ob ich ein Problem mit der Erzählung an sich hatte. Ich kam zum Schluss, dass es für mich eher der erzählte Stoff ist und nicht die Erzählidee, der negative Gefühle in mir auslöste. Schließlich gibt es viele ungeheilte Wunden, die man so ansammelt als vietnamesisches Kind in Deutschland und dann später in seiner Jugend, wenn alle von ihrem Backpacking in Vietnam erzählen, während man selbst keine Aufenthaltsgenehmigung oder keinen Reisepass hat, der es einem erlauben würde, das Land der eigenen Vorfahren zu bereisen. Weiße Backpacker dagegen sind unerträglich unbeschwert und schwärmen nach ihrer Reise vom tollen Essen oder ziehen über Dinge her, die ihnen nicht so gefallen haben. Dass sie mit etwas, was für mich so emotional beladen ist, umgegangen sind wie mit einem Konsumprodukt, war und bleibt schmerzhaft.

Vor dem Hintergrund war es sowohl interessant als auch unbequem, Vietnam aus den Augen einer solchen Person zu erfahren. In Dümpeln ist man quasi dazu gezwungen, die Gefühle einer Person anzunehmen, die Vietnam konsumiert für ihre eigene Selbsterkenntnis. Ein Teil von mir wäre am liebsten einfach nur beleidigt, weil diese Perspektive all diese alten Kränkungen wieder hervorholt. Aber es hat auch eine gewisse Kraft, trotzdem zu versuchen zu verstehen, warum andere Menschen sich in solchen Lebenssituationen befinden und welche Prozesse sie dort durchmachen. Sinnsuche ist ja etwas zutiefst Menschliches. Warum sollte ich das einer Person absprechen? Sie begibt sich eine Parallelwelt in einem für sie weit entfernten Land, weil sie es kann. Würde ich dasselbe tun, wenn ich es auch könnte? Wahrscheinlich ja. Aber ich habe keinen weit entfernten Zufluchtsort, an dem ich einfach herumdümpeln und mir nicht so viele Gedanken machen muss, wie ich überlebe und die nächsten Mieten bezahle.

Im Rahmen eines Sensitivity Readings kann ich ihre Entscheidung als Teil meines Jobs akzeptieren. Es wäre anders, hätte ich Dümpeln rein privat gelesen und wäre dann plötzlich auf eine Stelle gestoßen, die mich verletzt und mit der ich dann alleine umgehen muss. Es würde mich vermutlich wütend machen und vielleicht würde ich zuklappen, denn wenn schon alles gedruckt ist, dann bin ich ja in einer machtlosen Position. Wenn ich aber schon im Rahmen eines Sensitivity Readings lese, bin ich Teil einer weiteren Feedbackschleife im Lektorat, in der ich in den Austausch gehen und verletzende Stellen zurückmelden kann.

Ich glaube, es wäre eine ganz schreckliche Welt, wenn wir gar nicht mehr andere Perspektiven oder andere Geschichten erzählen dürften. Schreiben bedeutet auch, Geschichten zu klauen. Und das finde ich jetzt nicht falsch an sich. Schreiben ist nicht nur das Veröffentlichen eigener Tagebücher. Aber mit diesem Klauen geht auch eine Verantwortung einher. – Vanessa Vu

Pola: Ich frage mich natürlich auch, ob es sinnvoll war, das Thema so zu wählen, als Deutsche ohne Migrationshintergrund in Vietnam. Braucht es Bücher, in denen weiße Personen über eurozentrische, postkoloniale Perspektiven sprechen, um anderen weißen Menschen zu erklären, dass die nicht okay sind? Nehme ich damit anderen Leuten eine Bühne weg, die anders über Vietnam schreiben? Ich kann diese Fragen nicht abschließend beantworten. Für mich hätte es sich wie gesagt falsch angefühlt, eine andere Perspektive anzunehmen, denn in diese Perspektive hatte ich Einblick.

Vanessa: Ich fände es ganz furchtbar, wenn man Bücher oder Romane nur noch aus der eigenen Perspektive schreiben könnte und in Hinblick darauf, dass sie politisch korrekt oder pädagogisch sinnvoll werden. Aber klar kann man sich die Frage stellen. 

Ich habe kürzlich Yellowface von Rebecca F. Kuang gelesen, das auch viele deiner Fragen aufwirft. Ich finde es an sich nicht falsch, wenn Personen sich in für sie fremde Kulturen versetzen. Die Frage ist, was genau machen sie dann mit dem Werk? Generieren sie damit irgendeinen Mehrwert oder nur Profit für sich? Damit steht und fällt meine Bewertung. Wenn man etwas erzählt, um es zum Beispiel anderen weißen Menschen vorzuhalten und vielleicht einen Reflexionsprozess loszutreten, wie du es machst, dann ist das für mich interessant. Aber wenn man den ganzen  Profit für sich allein einsammelt und im Grunde nur die Fantasienvon Menschen bedient, die ebenfalls nichts mit dieser ja realen Kultur zu tun haben… was bleibt dann für die Menschen, deren Geschichten genutzt werden? Geschichten finden sich ja nicht einfach nur so auf der Straße, wie man manchmal sagt, mit dem Sich-öffnen geht ja viel emotionale Arbeit einher. Die bleibt dann oft unsichtbar und unbezahlt.

2019 gab es dieses Beispiel in Deutschland, ein Theaterstück, atlas, über vietnamesische Schicksale in Deutschland und in Vietnam, geschrieben, inszeniert und gespielt ausschließlich von weißen Deutschen ohne Migrationshintergrund; vietnamesische oder asiatische Menschen wurden zwar für Recherche-Zwecke eingebunden, aber meines Wissens weder entlohnt noch namentlich gewürdigt. Das Stück wurde dennoch mit einem Theaterpreis ausgezeichnet. Das ist für mich ein Negativbeispiel. 

Es gibt da einen unterschiedlichen Umgang innerhalb der Generationen. Viele in der älteren Generation (in der vietnamesischen Community) sind froh, dass sich überhaupt jemand für ihre Geschichten interessiert und fühlen sich dadurch wertgeschätzt. In der jüngeren zweiten Generation fragt man sich aber: Warum beauftragt man überhaupt eine weiße Person, diese Geschichte zu schreiben, wenn es auch vietnamesische Autor:innen gibt? Warum spielen weiße Personen vietnamesische Charaktere, wenn es auch vietnamesische Schauspieler:innen gibt? Was hat die vietnamesische Community hier davon, deren Geschichten das sind? Wir sind doch mehr als nur eine Inspiration, wir sind ebenfalls Künstler:innen! 

Das sind berechtigte Fragen, nichtsdestotrotz glaube ich, es wäre eine ganz schreckliche Welt, wenn wir gar nicht mehr andere Perspektiven oder andere Geschichten erzählen dürften. Schreiben ist immer auch, Geschichten klauen, man schnappt Gesprächsfetzen, Gesten, Schicksale auf und macht was draus. Und das finde ich jetzt nicht falsch an sich. Schreiben ist nicht nur das Veröffentlichen eigener Tagebücher. Aber mit diesem Klauen geht auch eine Verantwortung einher. Und was mich stört ist, wenn Leute gar nicht über ihre Verantwortung nachdenken. Wie sie mit den Geschichten anderer Menschen umgehen. Ich finde das Gespräch mit dir sehr angenehm, weil du dich dem stellen willst. Du und der Verlag habt darüber nachgedacht, ein Sensitivity Reading zu machen, dabei ist es ja nicht selbstverständlich, sich zu fragen: Welche Verantwortung habe ich eigentlich?

Ich finde, zu schreiben, ohne zu verletzen, das kann nicht der Anspruch sein, weil Erzählen anders funktioniert. Manche Stoffe tun einfach weh. Aber man muss nicht unnötig verletzen. Also manche Themen tun weh und dann ist es auch richtig, dass sie wehtun, 

weil es auch eine Art der Verarbeitung ist, vielleicht auch gemeinsam mit anderen Menschen. Aber es gibt ja auch diese Verletzung in der Beiläufigkeit. Und dafür, glaube ich, ist sowas wie Sensitivity Reading gut. Eines meiner Feedbacks war ja, dass man das schon früher machen sollte, am Anfang des Schreibprozesses und dann nochmal später während des Lektorats. Ich denke, dann ist ein Sensitivity Reading am sinnvollsten.

Weißt du, in den 80er Jahren gab es einen schrecklichen rechtsextremen Anschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in Hamburg, bei dem zwei Vietnamesen ermordet wurden. Wenn sich nur Vietnames:innen dafür interessieren würden oder nur sie die Geschichte erzählen würden, wo kämen wir denn da hin? Also ich finde es sehr wichtig, dass man sich interessiert. Ich glaube trotzdem, man darf das Schreiben an sich und die Lust am Erzählen und auch die Lust am Lesen nicht komplett von einer materiellen Realität entkoppeln: wer erhält welche Chancen? Warum? Wer kann vom Erzählen welcher Geschichten leben? Warum sind marginalisierte Menschen ständig außen vor? Idealerweise müssen wir ja nicht darüber reden, ob es dein Buch braucht. Im Idealfall gäbe es so viele Perspektiven, dass deine eine von vielen wäre.